01.03.2005 Interview: "high wycombe - retoure"   sonic seducer  (Germany)
 
    Foto: Reiner Nicklas  
   
High Wycombe – Die Macht des Sequenzers

Auf Ihrem vierten Album „Retoure“ verzaubern die zwei Musiker Christian Grass und Martin Neumann den Zuhörer mit weiten Klanglandschaften der behutsamen gestalteten, verschachtelten, spannungsgeladenen Elektronik. Vielschichtig wie auch feinsinnig gehen sie zu Werke und erschaffen atmosphärisch aufgeladene Momente, die sich zu wahren Klangmonumenten verdichten. Collagenhafte, irrwitzige Reisen durch synthetische Räume, durch weite graue Ebenen der elegant konstruierten, sich langsam aufbauenden Spannungsbögen, die dem Hörer durchaus Geduld und Konzentration abverlangen. Es handelt sich also um Musik, die nicht für den schnellen oberflächlichen Gebrauch geschaffen wurde…

(Interview ungekürzt)
 
   

QUE 1: Euer Album "retoure" beginnt mit einem ominösen "Om-"Sample.  Ich nehme an, ostasiatischen Ritual-Aufnahmen entnommen? Birgt das Sample über seine Ästhetik hinaus eine tiefer gehende Bedeutung für Euch?
C: Die Sample-Herkunft ist weitaus unspektakulärer als bestimmt vermutet. Bei der Suche nach brauchbarem Material wird von uns alles durchforstet, was einem im audio-visuellen Format in die Hände kommt. So auch das besagte „om“-sample eines Chores, der nebenbei in männlicher als auch weiblicher Besetzung ein „oh“ oder „ahh“ zum Besten gibt. Vielmehr spielt die Eigenständigkeit des einzelnen Sounds eine große Rolle, die in jedem Fall immer etwas Besonderes darstellt, entweder in seiner Klangcharakteristik oder in dem, was er in uns erzeugt.

QUE 2: Ihr schafft in euren Klangwerken immer wieder gewaltige Spannungsbögen der elektronischen Finesse, die sehr wohl auch die Ausdauer, die Geduld des Hörers fordern. Ihr habt es offenbar nicht auf oberflächliche, schnelle Eingängigkeit abgesehen. Hut ab. Habt ihr indes keine Angst, den Hörer durch Eure Collage-Freude, eure zuweilen zehrende Langsamkeit zu überfordern?
C: Ihr habt mit Sicherheit Recht, dass sich die Musik von high wycombe nicht gleich beim ersten Hören erschließt, sie „zu sperrig“ als auch primär nicht clubtauglich ist. Da wir mit Band und Label nicht ganz den kommerziellen Zwängen unterliegen, werden wir auch weiterhin diese Art von Musik machen & veröffentlichen, die unserem eigenen Anspruch an innovative, elektronische Musik genügt und aktuellen Hörgewohnheiten entspricht. Das hat natürlich zur Folge, dass wir als high wycombe Gefahr laufen, zum einen vom Hörer nie akzeptiert zu werden oder gar seine Gunst zu verlieren. Umso mehr freuen wir uns über ein positives Feedback und über Stimmen, die unsere Ansichten teilen.
M: Es war sicher nicht unser Ziel, die Songs möglichst schwer zugänglich zu machen. Möglicherweise war dies eher ein Effekt, der sich durch das lange Arbeiten an einem bestimmten Song ergab. Da wir die Songs auch keinen Einschränkungen oder bestimmten Vorstellungen unterwarfen, spiegeln sie genau die Art Musik wieder, auf die wir Lust hatten. Umso spannender ist es für uns, zu erfahren, wie das Album bei den Hörern und Medien ankommt.
 

QUE 3  Unentwegt erschafft ihr sehr schöne, electro-industrialine Klanglandschaften, die hinfortführen mögen in weite Ebenen.... zu Visionen, vielleicht.  Gibt es Visionen, die ihr selber vor Eurem geistigen Auge seht? Während ihr die Stücke erstellt?
C:Für unsere Songs lassen wir uns auch heute noch von Science Fiction- Filmen und Storries inspirieren. Nahezu die Hälfte der auf dem offiziell aus sample-rechtlichen Gründen bislang nicht veröffentlichten 3. Album „code 74“ vorhandenen Songs widmen sich dem Kinofilm „Matrix“. Filme wie Alien & Abyss beeinflussten uns schon während der beiden ersten Alben.  Betrachtet man gezielt die Einbettung von Sprachsamples in den geschaffenen Klangcollagen, versuchen wir die Stimmung bis auf das Derbste auszureizen. Gänsehautstimmung ist somit ein gewünschter Nebeneffekt, der besonders bei der Kombination aus Märchenschallplatten und bizarren industrial-Flächensounds hervorgerufen werden kann. Sicherlich nichts Neues, jedoch sehr effektiv. 
M: Bei den Songs „Neila“ und „Fight“ gab es schon konkrete Bilder und/oder Themen im Kopf, die wir musikalisch umsetzen wollten. Die Texte beziehen sich dann ebenfalls darauf, sind aber dennoch so gestrickt, dass sie eigene Interpretationen des Hörers zulassen. Andererseits entsteht oft auch erst die Musik, ohne ein bestimmtes Thema verarbeiten zu wollen. Je nach Stimmung kommen uns dann, während die Musik entsteht, die unterschiedlichsten Bilder und Assoziationen in den Sinn. Dies beeinflusst dann natürlich auch die musikalische Ausrichtung des Songs.

QUE 4 Gibt es einen Storyplot/ ein Konzept, das dem Album zugrunde liegt?
C: Nein. Lediglich die Kombination aus neuen und älteren Stücken, die zum Teil in einem Remix vorliegen, war gewollt. Deshalb auch der Albumtitel „retoure“, der Blick zurück. Zudem sollte der Hörer nicht mit einem 45 Minuten Album abgespeist werden, was sich jedoch im Nachhinein betrachtet, bei der Komplexität der Songs vielleicht doch als vorteilhaft erwiesen hätte.

QUE 5: Hypnotik der langsam dahinschwebenden Electro-Magie... Sphärisch, manchmal a bit psychedelisch.... Würdet ihr sowas unterstreichen? Wie würdet ihr Eure Soundscapes selber definieren?
C: Vielleicht so in etwa: Überwiegend sphärisch inszeniert, kreieren wir als high wycombe einen eher harten, experimentellen Sound. Eingebettet in glasharter 2step-Rhythmik, sphärischen Flächensounds und bizarren Samplekollagen findet sich der Slowmotion-Sprechgesang wieder.

QUE 6: Was sind die Grundgefühle, die Euch antreiben? Wahrscheinlich nicht dieselben, die Marilyn Manson antreiben, hm? Was treibt den denn wohl eigentlich an?
M: Da die Musik gegenüber den Texten oft im Vordergrund steht, bewirkt meist die momentane Stimmung das musikalische Schaffen. So entstehen natürlich auch erste Ideen, die dann später nicht mehr gefallen, oder in eine völlig andere Richtung weiterentwickelt werden. Wenn uns bestimmte Ereignisse oder Filme inspirieren, sind bestimmte Grundgefühle gar nicht nötig. Das konkrete Thema dient dann als Basis. 
C: Wie bereits gesagt, der eigene Anspruch an innovative, elektronische Musik. Das Soundtüffteln stellt für mich den Abstand zur Arbeitswelt dar. Jegliche Form von Emotionen in beruflicher und privater Hinsicht werden über den Sequenzer gebündelt, entladen und neutralisiert.

QUE 7: Komplexe Strukturen, spannungsreiches Flüstern... gibt es Vorbilder in der Musik, die euch inspirieren? Oder etwas außerhalb von Musik?
C: Die Musik der beiden ersten Alben „reverse the verdict“ und „impulse“ läßt sich am besten in die Sparte Electro/EBM einordnen, ohne jedoch dieser auf konventionelle Art und Weise "treu" zu sein. Bands wie Frontline Assembly, Haujobb, Front242 und Skinny Puppy zählen dabei zu unseren musikalischen Vorbildern. Im Laufe der Zeit änderte sich natürlich auch unser persönlicher Musikgeschmack. Etwas weg vom klassischen Electro/EBM sind wir ebenso begeisterte Anhänger von diversen Projekten eines Daniel Myer oder Volker Kahl.
M: Weitere musikalische Vorbilder wären Projekte wie Beefcake, Prodigy, Oomph, Krupps, Leatherstrip, Wumpscut,...die Liste könnte man endlos fortsetzen.

QUE 8: Wofür steht der Name "High Wycombe"?
C: Der Name steht für die englische Stadt, rund 100 Kilometer westlich von London gelegen, die während des Zweiten Weltkrieges Stützpunkt der Amerikaner war. Einfach der Name hat uns fasziniert.

QUE 9: Es klingt, als hättet ihr große Freude am Detail, als läge Euch das "Frickelige" - seh ich das richtig? Wie lange habt ihr an Retoure gearbeitet?
M: Das ist richtig. Deshalb mögen wir auch Bands wie Haujobb, beefcake, autechre, FLA,  usw...die reine Arbeitszeit an „retoure“ beträgt vielleicht 1,5 Jahre, bedingt durch andere Projekte wie z.b. concise beträgt der Zeitraum zum Vorgänger „code 74“ 4 Jahre.
C: Der Vor- oder Nachteil liegt zudem vielleicht an unserer Arbeitsweise. D.h. jeder von uns beginnt zunächst einen Song und gibt ihn zur kompletten Überarbeitung und Ergänzung an den anderen weiter. Somit werden die Songs komplexer & verschachtelter und vermutlich auch schwerer zugänglich für Außenstehende.

QUE 10: Erzählt doch mal was aus eurem Innengerüst: Christian und Martin. Wer sind die Zwei?
C: Wir kennen uns schon seit der 3. Schulklasse und hatten seither nahezu den selben Musikgeschmack. Die Idee selbst Musik zu machen, kam spontan, indem wir witziger Weise beide zeitgleich Depeche Mode – Coverversionen am PC  kreierten. Hauptberuflich spielt die Elektronik ebenso eine große Rolle. Martin liegt momentan in den letzten Zügen seines Informatik Studiums, während ich als Wirtschaftsingenieur und IT-Spezi für eine Marketingfirma im Osten der Republik arbeite.

QUE 11: Mensch, diese atmosphärische Tiefe, wie sie zB in "Journey Of Self-Awakening" herrscht! Worum geht es in dem Song? Eine versteckte, unheimliche und tiefe Wahrheit
C: Endlich findet der Song "Journey Of Self-Awakening" mal ein wenig Beachtung! Er ist nämlich mein persönlicher Favorit. Dieser Song stellt mit Sicherheit eine Randerscheinung des Albums dar, da zum einen auf Instrumente wie das Saxophon zurückgegriffen wurde und zusammen mit dem Beat die einzigen Konstanten darstellt. Dennoch erzeugt der Song insgesamt eine Atmosphäre, die besonders im Stereobild über Kopfhörer prima rüberkommt, wie ich finde. Musikalisch inspiriert haben uns dabei „The cage complex” (haujobb „solution for a small planet“) und diverse beefcake Alben. Im Vordergrund bei diesem Instrumental standen wieder die Einzelsounds und deren Zusammenspiel.

 
    ...Kym Gnuch  
 



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